Titelbild Fachverband Traumapädagogik e.V.

Preview: Dokumentarisches Wörterbuch Traumapädagogik

Seit bald 30 Jahren wird die Traumapädagogik von einer zunehmenden Zahl an Fachmenschen entwickelt, erweitert und ausdifferenziert. Die vielfältigen praxis- und theoriebezogenen Stränge und Facetten, die sich im Laufe der Zeit ausgebildet und weiterentwickelt haben, stehen für die hohe Qualität und eine mittlerweile beachtliche Reichweite der Traumapädagogik. Um einen Beitrag zur langfristigen Sicherung zu leisten, möchte der Fachverband Traumapädagogik e.V. die wertvollen Entwicklungen im Feld der Traumpädagogik möglichst umfänglich, differenziert, strukturiert und vernetzt sichtbar machen.

Dies soll mittels eines Formats mit dem Namen „Dokumentarisches Wörterbuch Traumapädagogik (DWTP)“ geschehen, welches derzeit entwickelt wird. Hierbei handelt es sich um ein kostenfreies, digitales Informationssystem, welches sich aus vielen miteinander vernetzten kompakten Einzelbeiträgen (max. 4000 Zeichen) in verschiedenen Kategorien (z.B. zu traumapädagogischen Konzepten, Anwendungsfeldern, Bezugstheorien, Begriffen, Methoden, Organisationen, Medien usw.) zusammensetzt. Durch die digitale Form ist es möglich, das DWTP laufend zu aktualisieren und Entwicklungsverläufe dabei zu dokumentieren. Eine genauere Beschreibung dessen, was das DWTP ist und was es leisten soll, findet sich in einem kurzem → Erklärvideo auf YouTube (externer Link).

Im vergangenen Jahr hat sich ein Herausgeber*innen-Team gegründet, welches sich aktuell mit der inhaltlichen, technischen und grafischen Umsetzung, der Akquirierung von Autor*innen sowie der Vervollständigung und Strukturierung der Themenliste befasst. Mehrere Autor*innen haben ihre Beteiligung bereits zugesagt. Im späteren Verlauf sollen sich interessierte Personen auch aus eigener Initiative melden können, um Beiträge für das Wörterbuch einzureichen.

Mit einer Veröffentlichung des Dokumentarischen Wörterbuchs kann im Jahr 2022 gerechnet werden. Informationen zum Prozesstand sowie auch bereits einzelne Artikel werden zwischenzeitlich über diesen Newsletter und auf der Homepage des Fachverbands veröffentlicht.

Wir freuen uns, Ihnen hier bereits zwei Artikel vorab präsentieren zu können:

 

Grundlagen der Bindungstheorie | Katja Nowacki

Das traumapädagogische Konzept zum Umgang mit selbstverletzendem Verhalten | Psych. Lena Kahl & Barbara Winterstein

Grundlagen der Bindungstheorie

Katja Nowacki

Die Bindungstheorie geht auf John Bowlby (1907-1990) zurück, einen englischen Psychiater und Psychoanalytiker. Unterstützt durch systematische Beobachtungen zu kindlichen Trennungen von den Eltern u.a. an der Tavistock Klinik in London durch James Robertson (1911-1988) und den Vermutungen zu Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung, formulierte Bowlby Annahmen zur Funktion von Bindung (vgl. Bowlby 1944, 1952). Die frühen Erfahrungen mit den primären Bezugspersonen sind demzufolge wesentlich für die weitere soziale und psychische Entwicklung.

Die ethologischen Befunde aus der Verhaltensforschung bestärkten Bowlby in der Annahme, dass Bindung ein biologisch angelegtes Verhaltensmotiv sei (vgl. Bowlby 1991/2017: 61). Diese Überlegungen wurden in späteren Arbeiten zu dem Einfluss von Hormonen (z.B. Cortisol, Oxytocin) und genetischen Markern fortgesetzt (vgl. Hane/ Fox 2016: 235 ff.).

Nach Mary Ainsworth (1913-1999), Kollegin von Bowlby, ist die Förderung der gesunden Entwicklung eines Kindes durch eine erwachsene Bezugsperson wesentlich, die konstant zur Verfügung steht und sich feinfühlig um die kindlichen Bedürfnisse kümmert (vgl. Ainsworth et al. 1974/2017: 251-252). Hierdurch entwickelt das Kind ein spezifisches Bindungsverhalten zu dieser Person, dessen Qualität ab dem zwölften Lebensmonat mit Hilfe des Fremde-Situation-Tests erfasst werden kann (vgl. Ainsworth et al. 1978). Kann sich das Kind durch die Hauptbezugsperson im Falle von Stress schnell beruhigen lassen, wird von sicherem Bindungsverhalten gesprochen. Kinder mit einem unsicheren Bindungsmuster zeigen entweder vermeidendes oder ambivalentes Verhalten (vgl. Grossmann/ Grossmann 2021: 140-156). Fühlt sich das Kind geschützt und wohl, zeigt es Explorationsverhalten (Erkunden der Umwelt), was als ergänzendes Motivsystem zu Bindung gilt (vgl. ebd.: 136 ff.). Bei desorganisiertem Bindungsverhalten konnte das Kind keine Strategie entwickeln, um eine stressauslösende Situation, zum Beispiel mit Hilfe der Mutter, bewältigen zu können (vgl. ebd.: 156-163). Dies tritt bei traumatischen Erfahrungen häufiger auf, ohne ein direkter Indikator dafür zu sein (Nowacki/ Remiorz 2018: 83). Davon abzugrenzen sind die klinischen Diagnosen der reaktiven Bindungsstörung und der Bindungs- bzw. Beziehungsstörung mit Enthemmung (vgl. Falkai/ Wittchen 2015: 362-369), bei denen die Kinder in der Regel keine konstanten Bezugspersonen haben und ihre Grundbedürfnisse nicht gut befriedigt werden (vgl. Trunk/ Nowacki 2021/ in Druck).

Aufgrund der frühen Interaktionserfahrungen bildet sich ein generalisiertes Arbeitsmodell von Bindung heraus (vgl. Bretherton/ Munholland 2016: 63) was ab dem vierten Lebensjahr zum Beispiel mit dem Geschichtenergänzungsverfahren erfassbar ist (vgl. Gloger-Tippelt/ König 2016). Im Erwachsenenalter kann hierfür das Erwachsenenbindungsinterview verwendet werden (vgl. George et al. 1996), mit dessen Hilfe die so genannten Bindungsrepräsentationen in sicher, unsicher-distanziert, unsicher-präokkupiert sowie unverarbeitet und nicht klassifizierbar eingeteilt werden können (vgl. Hesse 2016: 555). Hierbei geht es vor allem darum, die Verarbeitung der Erfahrungen mit den leiblichen Eltern aber auch weiteren Bezugspersonen wie zum Beispiel Heimerzieher*innen, Pflege- oder Tageseltern nachzuvollziehen (vgl. Nowacki/ Schölmerich 2010).

In Langzeitstudien konnte eine gewisse Stabilität von Bindungsmustern festgestellt werden (vgl. Waters et al. 2000), allerdings hängen Traumata und Trennungen mit negativen Entwicklungen zusammen (vgl. Grossmann/ Grossmann 2021: 100). Im Gegensatz dazu können Erfahrungen mit alternativen Bezugspersonen zu einer positiven Veränderung des Arbeitsmodells von Bindung führen. Dies ist gerade für Kinder, die aufgrund traumatischer Erlebnisse in der Herkunftsfamilie fremduntergebracht werden mussten, bedeutsam ist, da auch Ersatzbezugspersonen die Rolle der Bindungsfigur übernehmen können (vgl. Nowacki/ Remiorz 2018).

 

 

Literatur

  • Ainsworth, Mary Dinsmore Salter/ Silvia M. Bell/ Donelda J. Stayton (2017): Bindung zwischen Mutter und Kind und soziale Entwicklung: „Sozialisation“ als Ergebnis gegenseitigen Beantwortens von Signalen (1974), in: Grossmann, Klaus E./ Karin Grossmann (Hrsg.), Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie, 5. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta, S. 242-279.
  • Ainsworth, Mary Dinsmore Salter/ Mary C. Blehar/ Everett Waters/ Sally Wall (1978): Patterns of Attachment: Psychological study of the Stange Situation, Hillsdale, New Jersey: Erlbaum.
  • Bowlby, John (2017). Ethologisches LIcht auf psychoanalytische Probleme (1991), in: Grossmann, Klaus E./ Karin Grossmann (Hrsg.), Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie, 5. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta, S. 55-69.
  • Bowlby, John (1952): Maternal care and mental health, in: Journal of Consulting Psychology, Bd. 16, S. 232–534.
  • Bowlby, John (1944): Forty-four juvenile thieves. their Characters and Home-Life, in: The International Journal of Psychoanalysis, 25, S. 19-53.
  • Bretherton, Inge/ Kristine A. Munholland (2016): The internal working model construct in light of contemporary neuroimaging research, in: Jude Cassidy/ Philip R. Shaver (Hrsg.), Handbook of attachment: Theory, research, and clinical applications, 3. Aufl., New York: Guilford Press, S. 63-88.
  • Grossmann, Karin / Klaus E. Grossmann (2021): Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit, 8. Aufl., Stuttgart: Klett Cotta.
  • Hane, Amie A./ Nathan A. Fox (2016). Studying the biology of human attachment, in: Jude Cassidy/ Philip R. Shaver (Hrsg.), Handbook of attachment: Theory, research, and clinical applications, 3. Aufl., New York: Guilford Press, S. 223-241.
  • Hesse, Erik (2016): The Adult Attachment Interview: Protocol, Method of Analysis, and Selected Empirical Studies: 1985-2015, in: Jude Cassidy/ Philip R. Shaver (Hrsg.), Handbook of attachment: Theory, research, and clinical applications, 3. Aufl., New York: Guilford Press, S. 553 - 597.
  • Nowacki, Katja/ Silke Remiorz (2018): Bindung bei Pflegekindern. Bedeutung, Entwicklung und Förderung, Stuttgart: Kohlhammer.
  • Nowacki, Katja/ Axel Schölmerich (2010): Growing up in foster care or institutions: Attachment representation and psychological adjustment of young adults, in: Attachment and Human Development, 12, Nr. 6, S. 551-566.
  • Trunk, Janine/ Katja Nowacki (2021/ in Druck): Bindung und Bindungsstörungen, in: Schnell, Thomas/ Knut Schnell (Hrsg.), Handbuch Klinische Psychologie. Berlin, Heidelberg: Springer.
  • Waters, Everett/ Dominique Trebo/Judith A. Crowell/ Susan Merrick / Lea Albersheim (2000): Attachment Security in Infancy and Early Adulthood: A 20-Year Longitudinal Study, in: Child Development, 71, Nr. 3, S. 684–689.

 

Kontakt:

Prof. Dr. Katja Nowacki

Fachhochschule Dortmund
Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften

Emil-Figge-Str. 44
44227 Dortmund

katja.nowacki@fh-dortmund.de

 

Das traumapädagogische Konzept zum Umgang mit selbstverletzendem Verhalten

Psych. Lena Kahl
Barbara Winterstein

 

Mädchen und Jungen aus herausfordernden Lebenssituationen haben meist sehr schmerzhafte Erfahrungen gemacht, die ihr Leben stark erschüttert haben. Der daraus resultierende seelische Schmerz will gesehen werden und zeigt sich häufig in selbstverletzendem Verhalten (Verweis auf Wörterbucheintrag zu selbstverletzendem Verhalten).

Bei Bezugspersonen und pädagogischen Fachkräften löst die Konfrontation mit dem Schmerz und den daraus resultierenden Wunden immer wieder Gefühle von Unsicherheit, Ohnmacht und eine Erschütterung des Sicherheitsempfindens aus.

In der Antonia-Werr-Zentrum GmbH, einer heilpädagogisch-therapeutischen Jugendhilfeeinrichtung, wurde über die vergangenen Jahre hinweg gemeinsam mit den jungen Menschen ein Konzept zum traumasensiblen Umgang mit selbstverletzendem Verhalten entwickelt. Ziel war es, sowohl den Mädchen und Jungen, als auch den pädagogischen Fachkräften und Bezugspersonen Sicherheit im Umgang mit diesem Verhalten zu vermitteln.

Ganz im Sinne der Traumapädagogik basiert das Konzept darauf, dass alle Beteiligten (junge Menschen, Mitarbeiter*innen, Bezugspersonen) eine Haltung entwickeln, die Selbstverletzung nicht als dysfunktionales Verhalten, sondern als Überlebensstrategie ansieht. Somit ist das Verhalten ein Versuch, mit den schmerzhaften Erfahrungen und deren Folgen umzugehen. Die Anerkennung des Schmerzes und ein liebevoller Umgang mit den jungen Menschen fördert einen liebevolleren Umgang mit sich selbst.

Das Besondere am Konzept ist, dass nicht versucht wird, „mit aller Gewalt“ das selbstschädigende Verhalten zu unterdrücken, sondern es geht vielmehr darum, dass alle Beteiligten das Verhalten und seine „guten Gründe“ begreifen. Durch Wissensvermittlung über die Ursachen von selbstverletzendem Verhalten sowie die Erarbeitung individueller „guter Gründe“ unter Einbezug der Expertenschaft der betroffenen Mädchen und Jungen, kommt es zu einem gemeinsamen Verstehen aller Beteiligten. Hierdurch werden die jungen Menschen dazu bemächtigt, mit der Zeit alternative Bewältigungsstrategien im Umgang mit ihrem Schmerz zu entwickeln. Dabei handelt es sich sowohl um kurzfristige Strategien, z.B. Skills zur Anspannnungsreduktion, als auch um die Stärkung des Selbstwerts und der Ressourcen. Letztere dienen als Schutzfaktoren, welche die Anfälligkeit für selbstverletzendes Verhalten langfristig reduzieren. 

Zudem umfasst das Konzept eine Anleitung für den Umgang mit akuten Selbstverletzungs-Situationen, in welcher die  Haltung beschrieben wird, mit der man verletzten Mädchen und Jungen begegnen kann. Darüber hinaus wird das praktische Vorgehen (Versorgung der Wunde, Nachbearbeitung mit den jungen Menschen) beschrieben. Hierbei gibt es eine neue Version der altbekannten Verhaltensanalyse, den sogenannten „Regen-Bogen“. Dieser erweitert die klassische Verhaltensanalyse um traumapädagogische Aspekte. Schließlich beleuchtet das Konzept Selbstfürsorge- und Nachsorge-Möglichkeiten für alle Beteiligten.

Originär traumapädagogisch ist die Einbeziehung des „Konzepts des guten Grundes“, ein hohes Maß an Wertschätzung, Transparenz und Partizipation für die jungen Menschen, Mitarbeiter*innen und Bezugspersonen sowie der Ansatz, durch Selbstwirksamkeit und Selbstbemächtigung die Mädchen und Jungen in ihrer Eigenverantwortung zu stärken und ihre Expertenschaft zu nutzen.

Ausführlich wird unser Konzept im Buch „Wenn Schmerz sichtbar wird“ beschrieben, welches voraussichtlich 2022 im Beltz-Verlag erscheint.

Das Konzept ließe sich auch übertragen auf andere Bereiche wie Tagesstätten, Einrichtungen für Erwachsene, psychiatrische und psychosomatische Kliniken oder auch die ambulante Psychotherapie.

 

Kontakt:

Dipl. Psych. Lena Kahl
Psychologische Psychotherapeutin
lena.kahl@antonia-werr-zentrum.de

Dipl. Psych. Barbara Winterstein
Psychologische Psychotherapeutin
barbara.winterstein@antonia-werr-zentrum.de

Therapeutischer Fachdienst
Antonia-Werr-Zentrum GmbH
Post Kolitzheim
97509 St. Ludwig

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