Newsletter der Bundesarbeitsgemeinschaft Traumapädagogik 10/2016
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Ende April diesen Jahres ist Wolfgang W. zu einer sechsjährigen Haftstrafe wegen schwerem sexuellen Missbrauch verurteilt worden. In einer Kleinsteinrichtung mit traumapädagogischer Ausrichtung, in der er als pädagogischer Leiter tätig war, hat er über Jahre hinweg Jungen sexuell missbraucht.
Wir sind über die Berichterstattung in der Presse auf diesen Fall aufmerksam geworden, und nach genauer Prüfung hat sich unsere Befürchtung bestätigt, dass es sich bei dem Verurteilten um eine Person handelt, die mit der BAG Traumpädagogik verbunden ist.
Wolfgang W. war sehr früh in der Traumapädagogik aktiv. Die Einrichtung, die er mit aufgebaut und geleitet hat, war von Gründung der BAG Traumapädagogik an Mitglied. Er hat in der traumpädagogischen Literatur Texte veröffentlich. Immer wieder wurde die Einrichtung, in der Wolfgang W. tätig war, von einigen Kolleg_innen aus der traumapädagogischen Szene als „sicherer Ort“ für Kinder und Jugendliche empfohlen.
Der Missbrauch durch Wolfgang W. macht uns auf unterschiedlichen Ebenen betroffen:
- Wir sind empört und wütend, dass Kinder und Jugendliche mit traumatischen Erfahrungen an einem vermeintlich sicheren Ort, Gewalt und Ohnmacht ausgeliefert waren.
- Wir sind entsetzt, dass ein Mensch, der sich nach außen für die Ideen und Ansätze der Traumapädagogik engagiert hat, so konsequent gegen alles gehandelt hat, wofür wir mit dieser pädagogischen Bewegung stehen.
- In Gremien, Schriften und Broschüren der Einrichtung eine Haltung offiziell zu vertreten und diese dann mit dem eigenen Verhalten derart zu konterkarieren, macht uns fassungslos.
Als BAG Traumapädagogik verstehen wir unsere Arbeit als anwaltschaftliche Arbeit für alle belasteten Menschen, die in pädagogischen Handlungsfeldern agieren: Kinder, Jugendliche und erwachsene Bezugspersonen. Das Verstehen und Versorgen der Belastungen der Helfer_innen ist uns ein großes Anliegen und Bestandteil von Traumapädagogik, gerade auch um Grenzverletzungen zu vermeiden.
Wir distanzieren uns umfassend von Wolfgang W., sowohl von seiner Person als auch von seinem Beitrag in der Traumapädagogik.
Wolfgang W. sagte im Rahmen der Verhandlung, dass es ihm um "Freude an der körperlichen Begegnung" gegangen, um eine befreite Sexualität. Dem widersprechen wir entschieden. Es gibt keinen Ansatz und keine fachliche oder moralische Rechtfertigung für das was er getan hat. Sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern, zwischen Pädagog_innen und Schutzbefohlenen sind immer der Versuch, Menschen für die eigenen Bedürfnisse zu manipulieren, zu erniedrigen und zu missbrauchen. Niemals geht es dabei um Förderung oder darum, Kinder in der Entwicklung zu unterstützen. Ausnahmslos!
Dass es immer wieder zu Übergriffen, oder besser, sexueller Gewalt durch psychosoziale Fachkräfte kommt, ist ein wichtiges Thema für alle pädagogischen Handlungsfelder. Einerseits können Settings für traumatisierte, hilfsbedürftige Kinder, die oft durch den Machtmissbrauch von Erwachsenen keine innerpsychischen Grenzen aufbauen konnten, pädophile Menschen und Sexualstraftäter anziehen, die sich dort kaltherzig, besser skrupellos, und geplant ihre wehrlosen Opfer suchen.
In der Betreuung von Kindern und Jugendlichen, die bereits Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch machen mussten, können im pädagogischen Alltag immer wieder Interaktionen entstehen, in denen die Kinder einen sehr achtsamen Umgang mit Grenzen benötigen, da sie Erfahrungen aus ihrer Vergangenheit unbewusst reinszenieren. Eines der Hauptanliegen der Traumapädagogik ist es, pädagogische Fachkräfte besser auf sämtliche Gegenübertragungsgefühle vorzubereiten, in traumapädagogischen Settings besonders professionell mit diesen schwierigen Interaktion umzugehen, besonders wachsam zu sein und die Grenzen dieser Kinder dadurch effizienter zu schützen. Deshalb macht es besonders betroffen, dass jemand, der sich in der traumpädagogischen Szene bewegte, die Konzepte und Ideen derart hinterging.
Besonders bedrückend ist die Täterstrategie, mit der wir konfrontiert sind, auch wenn sie keine außergewöhnliche ist. Wolfgang W. war pädagogischer Leiter einer Einrichtung für traumatisierte Kinder und Jugendliche. Er ist Autor eines Textes, in welchem er explizit auf die Gefahren von Übergriffen in Einrichtungen wie seiner hinweist. Er schließt sich einer Organisation an, die sich für den Schutz vor sexualisierter Gewalt engagiert. Mit dieser Strategie, nicht defensiv zu agieren, sondern einen Schritt nach vorne zu gehen, hat er versucht, sich einen guten Schutzschild zu schaffen, um nicht als Täter in Verdacht zu geraten.
Es ist wichtig, achtsam und offen zu sein, Gefühle und Befürchtungen zu benennen. Und es ist wichtig, seinen Kolleginnen und Kollegen zu vertrauen, wenn man gemeinsam traumatisierte Jungen und Mädchen begleitet. Die BAG Traumapädagogik setzt sich seit ihrer Gründung aktiv für die Sensibilisierung auf Täterstrategien ein und sorgt somit dafür, dass TäterInnen sich zunehmend nirgendwo für ihr Handeln mehr sicher fühlen können.
Es ist auch Teil der Täterstrategie, dass sich Täter_innen sexualisierter Gewalt gezielt in diesen Handlungsfeldern betätigen. Diese Tatsache hat unvermeidbar auch Auswirkungen auf die persönlichen und fachlichen Bezüge der anderen Kolleginnen und Kollegen. Wir befassen uns unweigerlich mit Fragen wie: „Habe ich hingeschaut?“, „Hätte ich/wir/die Fachöffentlichkeit etwas merken müssen?“, „Habe ich/ wir Warnhinweise übersehen“, „Hätte ich besser aufpassen müssen?“, „In wie weit bin ich beteiligt?“
Wir sind beteiligt als Vertreter_innen der Traumapädagogik, als Herausgeber_innen, als Mitautor_innen. Wir fühlen uns durch seine Täuschung an uns in unserer pädagogischen Grundhaltung und unserem Engagement, belastete Kinder zu verstehen und sichere Orte für sie zu schaffen, missbraucht.
Klar ist, dass Wolfgang W. oder ein Verein/Trägerschaft, in welchem er eine offizielle Funktion begleitet, nicht Mitglied in der BAG bleiben und sein kann. Die Einrichtung hat zwischenzeitlich ihren Betrieb zum 30.06.2016 eingestellt. Da wir keine Kollektivschuld aussprechen wollen, möchten wir Mitbetroffenen und ebenfalls hintergangenen Kolleg_innen und Kooperationspartner_innen, die mit den durch die Ereignisse ausgelösten Emotionen und fachlich-professionellen Folgen zu kämpfen haben, ausdrücklich die Unterstützung der BAG Traumapädagogik anbieten.
Mit ausdrücklicher Zustimmung des Verlags und aller Herausgeber_innen wird die nächste Auflage des Buches Traumapädagogik (BELTZ) ohne den Artikel von Wolfgang W. erscheinen. Stattdessen ist beabsichtigt einen Artikel zum Thema Täterstrategien an diese Stelle zu setzen.
Gerade diese Vorfälle zeigen einmal mehr wie wichtig es ist, Rahmenbedingen und Schutzkonzepte zu haben, in denen pädagogische Prozesse und Beziehungen im Team und auch mit Außenstehenden kritisch reflektiert werden. Insbesondere Kleinstinstitutionen, in denen oft einzelne Leitungspersonen sehr viel Macht und Einfluss besitzen, aber auch besonders eng mit den Kindern interagieren (vgl. Enders 2012, Fegert & Wolf 2015), sind von den Strukturen her gefährdeter. Wir sind überzeugt, dass es sinnvoll und möglich ist, Orte zu schaffen, an denen Kinder und Jugendliche möglichst sicher vor Gewalt, Ohnmacht und Missbrauch geschützt sind, und dort erfahrene traumatische Erfahrungen bewältigen können, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Unterzeichnende der Stellungnahme
Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft Traumapädagogik
Jacob Bausum, Berthold Engelke, Birgit Lang, Marc Schmid, Thomas Wahle
Gründungsvorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft Traumapädagogik
Jochen Wolf Strauß, Thomas Wahle, Wilma Weiß
Herausgeber_innen des Buches „Traumapädagogik“
Lutz-Ulrich Besser, Jacob Bausum, Wilma Weiß
Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft Traumapädagogik e.V.
Mödsiek 40
33790 Halle / Westfalen